Wie es bei Linux ohne Linus Torvalds weiterginge
Niemand ist vor Flugzeugabsturz, Terrorakt oder fatalem Herzversagen gefeit – auch Linus Torvalds nicht, der bei der Entwicklung seines Linux genannten Kernels nach wie vor das letzte Wort spricht. Das bereitet vielen Sorgen, denn nirgends ist öffentlich niedergeschrieben, wer oder was im Fall der Fälle die Leitung übernimmt.
Das führt immer wieder zu Spekulationen in Foren und Artikeln großer Medien; kein Wunder, schließlich ist es ein typisches "Bike Shedding"-Thema, zu dem jeder eine Meinung haben kann. Vieles davon ist allerdings abwegig, weil außerhalb von Entwicklerkreisen kaum jemand die Nachfolgeregelung kennt. Die ist zwar nicht niedergeschrieben, aber de facto gibt es eine.
Ein von Torvalds und unter den Betreuern wichtigster Teilbereiche des Linux-Kernels angesehener Entwickler übernimmt die Leitung. Diese Rückendeckung braucht die Person auch, schließlich kann jeder jederzeit den aktuellen Linux-Code nehmen und damit einen direkten Konkurrenten starten.
Wer der designierte Nachfolger ist, war Kennern der Szene im vergangenen Vierteljahrhundert auch immer ziemlich klar. Zur Jahrtausendwende war das Alan Cox; rund um die Einführung von Linux 2.6 im Jahr 2004 wurde es für einige Jahre Andrew Morton. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist es mittlerweile Greg Kroah-Hartman.
Vollends deutlich wurde das 2018, als sich Linus Torvalds nach Schimpftiraden eine Auszeit nahm: damals übernahm Kroah-Hartman für einige Wochen die Entwicklungsleitung. Dieser hat auch heute noch Zugriff auf Torvalds' Git-Depot mit dem Hauptentwicklungszweig von Linux, wie der leitende Admin von kernel.org jüngst dem Autor gegenüber erwähnte.
Ohnehin ist es schon länger Kroah-Hartman und nicht mehr Torvalds, der in der Regel die neuen Versionen von Linux signiert, die Kernel.org als Archiv verteilt. Das schließt neue Releases des vom Linux-Vater betreuten Hauptentwicklungszweigs ein, denn er veröffentlicht diese nur noch über das Quellcodeverwaltungssystem Git.
Das macht er zumeist am Sonntagnachmittag im amerikanischen Oregon; auf Kernel.org erscheinen sie oft erst sechs bis neun Stunden später am europäischen Montagmorgen, nachdem der in den Niederlanden wohnende Kroah-Hartman sie signiert hat. Nicht bekannt ist, ob vor oder nach dem ersten Kaffee.
Kroah-Hartman könnte somit jederzeit die Entwicklung übernehmen, falls Torvalds was passiert oder er abtritt. Ersterer erwähnte gegenüber dem Autor auch mal, daß er und der Linux-Gründer schon seit Jahren nicht mehr in denselben Flieger steigen sollen. Daß sie mittlerweile auf unterschiedlichen Kontinenten und damit unterschiedlichen Staaten leben, dürften viele ebenfalls begrüßen.
Ähnlich wie Morton zuvor bezieht Kroah-Hartman genau wie Linus Torvalds ein Einkommen als "Fellow" bei der Linux Foundation. Das macht die beiden wichtigsten Linux-Entwickler weitgehend unabhängig: wären sie bei viel zu Linux beitragenden Firmen wie ARM, AMD, Alphabet/Google, Intel, Microsoft, Nvidia oder IBM/Red Hat angestellt, entstünde bei strittigen Themen sonst schnell der Verdacht, sie würden die Kernel-Entwicklung zugunsten ihres jeweiligen Arbeitgebers beeinflussen.
An wen der Staffelstab übergeht, ist natürlich enorm wichtig. Noch viel wichtiger ist am Ende aber, daß die Person das Vertrauen der wichtigsten Entwickler genießt – allen voran der Betreuer der wichtigsten Subsysteme des Kernels. Denn wenn denen die neue Nase an der Spitze nicht paßt, könnten sie jederzeit einen Fork von Linux lostreten; derlei wäre sogar das wahrscheinliche Resultat, wenn die Linux-Foundation oder die Amazons, Googles, Metas und IBMs dieser Welt irgendwie die Kontrolle über die Linux-Entwicklung an sich reißen würden.
Im Unterschied zu anderen Projekten kann so ein Fork womöglich sogar ohne sofortige Namensänderung starten: den Begriff "Linux" hat Torvalds zwar geschützt, aber er wird schon seit jeher für damit gebaute Betriebssysteme und ihre Kernel genutzt, selbst wenn Letztere sich massiv von dem via Kernel.org verteilten unterscheiden. Das ist insbesondere bei Android oder den Distributionen von Canonical/Ubuntu, Red Hat oder Suse der Fall.
Vor fast 25 Jahren hat ein Entwickler-Fork sogar angefangen, dem Original ungeplant Konkurrenz zu machen: im ersten Jahr der Linux-2.4er-Serie galten die "linux-ac"-Kernel von Alan Cox zeitweise als die besseren und stabileren Linux-Kernel. Vereinzelt verwenden Distributionen sie daher standardmäßig; nach Feinschliff für eine größere und umstrittene Kurskorrektur auf Torvalds Seite flossen die beiden Stränge dann aber wieder zusammen.
Wie ein neuer Firmen-Chef würde Torvalds Nachfolger natürlich auch neue Ideen mitbringen. So könnte sich die Person ein oder zwei Entwickler an die Seite holen und die Linux-Entwicklung als Team leiten. In den vergangenen fünf bis zehn Jahren sind schon einige der größeren Subsysteme des Kernels dazu übergegangen, die Last auf zwei oder drei Schultern zu verteilen. Über derartiges läßt sich viel spekulieren. Was wirklich passiert, wird sich erst zeigen, wenn jemand anders das Ruder in die Hand nimmt. Derzeit deutet aber nichts darauf hin, daß Torvalds es in nächster Zeit abgibt.