Der Beginn des Kontrollverlusts – Als Österreich die Grenzen öffnete
Die Bedeutung historischer Momente erkennt man meist erst im Nachhinein. In der Nacht auf den 5. September 2015 war dies anders. Als mehrere Tausend Flüchtlinge die Grenze aus Ungarn überschritten – zu Fuß, vom Regen durchnässt, aber glücklich einen weiteren Schritt Richtung Deutschland gemacht zu haben – war allen Beteiligten klar, daß diese Nacht in die Geschichtsbücher eingehen wird.
"Aufgrund der Notlage an der ungarischen Grenze stimmen Österreich und Deutschland in diesem Fall einer Weiterreise der Flüchtlinge in ihre Länder zu", hatten der damalige Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) und seine deutsche Amtskollegin Angela Merkel kurz davor bekannt gegeben. Verfasst hatte die Erklärung laut der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit" Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) mit seinen deutschen und ungarischen Amtskollegen. 15.000 Schutzsuchende sollten es an diesem Wochenende schließlich werden. Lediglich 90 von ihnen suchten in Österreich um Asyl an, der Rest reiste nach Deutschland weiter.
Was als einmalige Aktion in einer Notsituation gedacht war, in der mit der Ausnahme roher Gewalt kein anderer Ausweg möglich schien, wiederholte sich schließlich Tag für Tag. Gut eine Million Flüchtlinge kam bis Ende 2015 nach Deutschland, 90.000 waren es in Österreich. Nach einer anfänglichen Welle von Hilfsbereitschaft und Solidarität antworteten europäische Staaten rasch mit Grenzkontrollen, der Aufhebung der Schengen-Reisefreiheit und einer Politik der Abschottung.
Freitag, 4. September 2015, Budapester Ostbahnhof, Mittag
Seit Wochen überschreiten Tausende Flüchtlinge täglich die grüne Grenze zwischen Serbien und Ungarn. Spätestens seit das deutsche Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (BAMF) erklärt hat, das Dublin-Verfahren – das eine Rückführung in das Ersteinreiseland innerhalb der EU vorsieht – für Syrer auszusetzen, wollen alle von ihnen nach Deutschland weiterreisen.
Seit einigen Tagen läßt Ungarn jedoch keine Flüchtlinge mehr an Bord der Züge in Richtung österreichische Grenze, der internationale Verkehr wird teilweise ganz eingestellt. Als am Mittwoch doch Züge abfahren, haben sie statt Österreich und Deutschland ein ungarisches Flüchtlingslager als Ziel, Hunderte Flüchtlinge treten dort in den Hungerstreik und weigern sich, die Garnituren zu verlassen.
Freitagmittag beschließen daher Tausende Menschen, sich zu Fuß vom Budapester Ostbahnhof auf den Weg zur österreichischen Grenze zu machen. Ein Versuch der ungarischen Polizei, den Marsch kurz vor der Autobahnauffahrt zu stoppen, scheitert.
Freitag, 4. September 2015, Wien, 20 Uhr
In den Abendstunden geht im Außenministerium ein offizielles Schreiben des ungarischen Botschafters ein. Er teilt mit, was längst bekannt ist – daß sich Tausende zu Fuß auf den Weg nach Österreich gemacht haben und bittet um eine Einschätzung der Lage: Wie soll Ungarn reagieren? Das Außenministerium leitet das Schreiben an Faymann weiter. Er ruft Merkel an.
Beide sind sich laut einem Bericht der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit" schnell einig, daß der Marsch nur mit Gewalt aufzuhalten wäre und in diesem Fall eine humanitäre Katastrophe drohen würde. Um dies zu verhindern, treffen sie eine historische Entscheidung: Österreich und Deutschland müssten die Grenzen für Flüchtlinge öffnen.
Freitag, 4. September 2015, Budapest, 21:30 Uhr
Während Faymann und Merkel noch hoffen, die Grenzöffnung bis Samstagvormittag hinauszögern zu können, erhöht Ungarn einmal mehr den Druck auf Österreich und Deutschland. Nach einer Sitzung des Krisenstabes der ungarischen Regierung tritt Kanzleiminister Janos Lazar vor die Presse und erklärt, noch in der Nacht würden etwa hundert Busse die Flüchtlinge zur österreichischen Grenze bringen. Ob die Menschen diese dann auch überqueren dürften, liege an Österreich.
Freitag, 4. September 2015, Wien, Kloster St. Gabriel im Wienerwald, Abend
Nach einem Treffen mit EU-Justizkommissarin Vera Jourova erklärt die damalige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) per Aussendung, Österreich halte an der Dublin-Verordnung fest. Doch sie fügt auch hinzu: "Wenn sich diese Menschen nicht im Rahmen der Verhältnismäßigkeit registrieren lassen und Gewalteskalationen drohen, weil sie grundsätzlich friedlich nach Deutschland weiterziehen wollen, dann werden sich ihnen unsere Polizistinnen und Polizisten nicht mit Gewalt entgegenstellen." Nur wenige Stunden später wird genau dies eintreffen.
Freitag, 4. September 2015, Berlin, 22 Uhr
Angesichts des ungarischen Ultimatums gerät Österreich immer mehr unter Druck. Faymann fleht Merkel laut "Zeit" förmlich an, noch in der Nacht einer Grenzöffnung zuzustimmen. Am Rande des EU-Außenministertreffens in Luxemburg entwerfen Außenminister Kurz sowie seine deutschen und ungarischen Amtskollegen unterdessen bereits die offizielle Erklärung, mit der die Grenzöffnung zwei Stunden später bekanntgegeben werden wird. "Wir werden die Menschen in dieser Notsituation nicht im Stich lassen", gibt eine Sprecherin Faymanns der APA zu Protokoll.
Samstag, 5. September 2015, Wien, kurz nach Mitternacht
Faymann gibt in Abstimmung mit Merkel und Ungarn die Grenzöffnung offiziell bekannt. "Aufgrund der Notlage an der ungarischen Grenze stimmen Österreich und Deutschland in diesem Fall einer Weiterreise der Flüchtlinge in ihre Länder zu", heißt es in einer Erklärung des Bundeskanzlers. Zugleich wird der vorübergehende Charakter des Schrittes betont: "Im Übrigen erwarten wir, daß Ungarn seinen europäischen Verpflichtungen, einschließlich der Verpflichtungen aus dem Dubliner Abkommen nachkommt." Das wird eine fromme Hoffnung bleiben, denn bis heute weigert sich Budapest, sogenannte "Dublin-Fälle" aus Österreich zurückzunehmen.
Samstag, 5. September 2015, Nickelsdorf, 3.00 Uhr
Der erste Flüchtlingsbus trifft auf ungarischer Seite ein, die Grenze zu Österreich müssen die Menschen zu Fuß überqueren. Dort erwarten sie Helfer mit warmen Decken und Essen sowie Busse und Sonderzüge der ÖBB, die sie nach Wien und dann weiter nach Deutschland bringen. Kurz nach 7.00 Uhr gibt die Polizei bekannt, es hätten bereits rund 3.000 Menschen die Grenze überquert. Um 10.00 Uhr teilt das Innenministerium auf Twitter mit, es würden insgesamt 10.000 Flüchtlinge erwartet.
Samstag, 5. September 2015, Budapest, Nachmittag
Der ungarische Polizeichef Karoly Papp erklärt, beim Transport von Flüchtlingen mit Bussen zur österreichischen Grenze habe es sich um eine "einmalige Aktion" gehandelt, die sich nicht wiederholen werde. Allerdings läßt Ungarn die Menschen nun wieder an Bord von Zügen Richtung Österreich, zudem haben die Flüchtlinge begonnen, sich selbst zu organisieren.
Sonntag, 6. September 2015, Wien, 17.00 Uhr
Faymann kündigt ein schrittweises Ende der Reisefreiheit für Flüchtlinge an. "Wir müssen jetzt Schritt für Schritt weg von Notmaßnahmen hin zu einer rechtskonformen und menschenwürdigen Normalität", teilt er in einer Aussendung mit. Einen konkreten Zeitpunkt nennt er nicht.
Sonntag, 6. September 2015, Wien, 19.30 Uhr
Der ungarische Premier Viktor Orbán, der zuvor so starken Druck auf Deutschland und Österreich ausgeübt hat, kritisiert in der "Zeit im Bild" des ORF die Grenzschließungen. Österreich und Deutschland würden EU-Recht verletzen, sagt er nun. Die beiden Länder müssten ihre Grenzen wieder schließen und "klar sagen", daß keine weiteren Flüchtlinge mehr aufgenommen würden. Ansonsten würden weiterhin "mehrere Millionen" Menschen nach Europa kommen, warnt Orbán.
Sonntag, 6. September 2015, Wien, 20.50 Uhr
Das Innenministerium veröffentlicht die offizielle Bilanz des Wochenendes: 15.000 Flüchtlinge überquerten demnach seit Samstagfrüh die Grenze, lediglich 90 von ihnen stellten einen Asylantrag in Österreich. Die Zahlen werden sich in den kommenden Tagen und Wochen kaum ändern, rund 6.000 Menschen erreichen von nun an täglich Österreich und reisen großteils nach Deutschland weiter.
Eine Welle der Hilfsbereitschaft unter dem Motto "refugees welcome" erfasst das Land. Hilfsorganisationen und Freiwillige versorgen die Menschen auf den Bahnhöfen mit Lebensmitteln, Hygieneprodukten und Kleidung, die ÖBB richten Notunterkünfte für jene ein, die nicht unmittelbar nach Deutschland weiterreisen können.
Für mehrere Monate wird der Notfall zur Regel. Doch die Stimmung schlägt zunehmend um: immer mehr Staaten errichten Zäune, führen wieder Grenzkontrollen ein, Österreich diskutiert über die Obergrenze. Ein Land nach dem anderen entlang der Balkanroute macht die Grenze für Flüchtlinge dicht.