Die Neutralität stirbt unbemerkt

Da wir nicht Wissen können, wie lange solche regierungskritsche Beiträge im Internet verfügbar bleiben, haben wir uns entschlossen, den im zuvor veröffentlichten Artikel "Österreichs Neutralität ist in Gefahr! General rechnet mit Regierung ab" erwähnten und verlinkten Beitrag hier auch wiederzugeben. Der Artikel wurde bei "liberatus" am 2. Mai 2025 veröffentlicht und stammt von General i.R. Günther Greindl. Wir geben hier den Text 1:1 wieder!

Das Regierungsprogramm "Jetzt das Richtige tun. Für Österreich" bekennt sich in überschwänglichen Worten zur Neutralität. In der Präambel wird die außenpolitische Leitlinie folgendermaßen beschrieben:

"Österreich bekennt sich klar zur Neutralität im Einklang mit der Verfassung und setzt sich für multilaterale Engagements in der UNO und der OSZE ein."

Die Neutralität scheint gerettet. Wirft man einen Blick in das mehr als 200 Seiten starke Regierungsprogramm, offenbaren sich in den Kapiteln "Österreich in der Welt" und "Österreich in der Europäischen Union", sowie im Kapitel "Landesverteidigung" die Widersprüche zum klaren Bekenntnis zur Neutralität. In Wirklichkeit wird die Aushöhlung der Neutralität, gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, beschleunigt vorangetrieben: 74 Prozent wollen die Beibehaltung der Neutralität, nur 14 Prozent wollen zur Nato!

Diese Politik erinnert an den Umbau eines denkmalgeschützten Gebäudes. Die Fassade bleibt erhalten, aber dahinter wird alles umgebaut. Dieses Spiel ist nicht neu.


Umfrage 2024 zur Frage Beibehaltung der Neutraliät oder Natobeitritt. © Statista.

Die Außenministerin Beate Meinl-Reisinger (NEOS) geht sogar noch weiter. Sie spricht in ihren ersten Stellungnahmen der Neutralität jeden sicherheitspolitischen Nutzen ab. Sie tritt offen für einen Beitritt zur NATO ein, denn die NATO sei ein Verteidigungsbündnis, das Schutz biete. Der Bundeskanzler nimmt das schweigend zur Kenntnis. Seine Devise "Wir wollen in der EU ein verläßlicher Partner sein" steht offenbar für das Ende des spezifischen Beitrags der Neutralität für Frieden und Sicherheit, den Österreich in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU einbringen wollte.

Eine kritische Bewertung einzelner Passagen des Regierungsprogramms macht deutlich, daß das klare Bekenntnis zur Neutralität nur ein Lippenbekenntnis ist.

"Wir bekennen uns zur Europäischen Union als größtes Friedensprojekt aller Zeiten. Österreich versteht sein Engagement im Rahmen der Neutralität als aktiven Beitrag zur Schaffung von Sicherheit und Frieden, basierend auf den unverrückbaren Grundlagen der Charta der Vereinten Nationen, wie die Achtung des Gewaltverbots und das Gebot zur Streitbeilegung mit friedlichen Mitteln. Der wesentliche Bezugsrahmen für die österreichische Außenpolitik wird auch künftig die Zusammenarbeit und Solidarität innerhalb der Europäischen Union sein. Die österreichische Bundesregierung wird Österreichs Rolle als neutraler EU-Staat auf internationaler Ebene einbringen, insbesondere als Vermittler."

Das Friedensprojekt EU ist jedoch gerade am Entgleisen, sie soll "kriegstüchtig" werden. Sie verweigert Verhandlungen mit Rußland, obwohl sie bei Achtung der Grundsätze der Vereinten Nationen dazu verpflichtet wäre. Die EU verkündet neuerdings die "regelbasierte Weltordnung" in der anscheinend kein Platz für Diplomatie ist. Niemand weiß, welche Regeln gerade gelten.

Österreich will im Einklang mit der Verfassung ein verläßlicher Partner sein. Die Formulierung "im Einklang mit unserer Verfassung" bedeutet, daß der Artikel 23j der Bundesverfassung, der die Mitwirkung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) regelt, das Neutralitätsgesetz teilweise außer Kraft setzt. Aus juristischer Sicht ist dies eine Änderung der Bundesverfassung die bewirkt, daß Österreich auch an polizeilichen und militärischen Aktivitäten der EU teilnehmen kann. Die Bevölkerung ist sich dieser Tatsache nicht ausreichend bewußt.

Der Artikel 23j B-VG hält allerdings fest, daß die GASP die Wahrung und Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen vorsieht. Deshalb könnte dieser Artikel auch im Sinne einer glaubwürdigen Neutralitätspolitik ausgelegt werden. Das würde bedeuten, daß sich Österreich an machtpolitischen Maßnahmen, die der UN-Charta widersprechen, nicht beteiligen muß.

Österreich bewegt sich derzeit in einer Grauzone, in der es keine neutralitätspolitisch glaubwürdige Linie verfolgt. Es erhebt sich die Frage, ob Österreich verpflichtet ist, eine Politik solidarisch mitzutragen, die sich ausschließlich auf eine militärische Lösung eines Konfliktes stützt? Die Einstimmigkeit in der GASP darf daher niemals abgeschafft werden, um sich diese Option nicht zu verbauen.

Die Absicht, sich als neutraler Staat auf internationaler Ebene, insbesondere als Vermittler einzubringen, steht ebenfalls im Widerspruch zum tatsächlichen Verhalten Österreichs. Ein Vermittler übt sich nicht in Kriegsrhetorik, er beschimpft nicht künftige Verhandlungspartner und er trachtet die Ursachen eines Konfliktes möglichst unparteiisch zu erkennen. Wer sich so verhält wie Österreich, schließt sich als Vermittler aus.

Zitat aus dem Kapitel Landesverteidigung: "Das Bundesheer wird für größtmögliche Kooperation im Rahmen des strategischen Kompasses konzipiert. Zur Krisenbewältigung an den europäischen Außengrenzen und darüber hinaus strukturiert Österreich für die Aufgaben der GSVP seine Streitkräfte in hochmobile EU-interoperable Einheiten, insbesondere als militärischen Solidarbeitrag zur GSVP. Gleichzeitig wird das Entsenderegime an die sich aus dem strategischen Kompass der EU ergebenden Notwendigkeiten angepasst werden."

Der "strategische Kompass" ist ein Aktionsplan, um die EU bis 2030 kriegstüchtig zu machen. Die beabsichtigten Maßnahmen sollen eine Ergänzung zur NATO bilden. Durch die sogenannte "irische Klausel" kann Österreich selbst entscheiden, auf welche Weise es Beistand leistet. So gesehen stellt die EU keinen eigenständigen Verteidigungsraum dar. Daß die EU kriegstüchtig gemacht werden muß, um die NATO zu verstärken, ist ein klarer Hinweis, daß sie ihre Identität und Unabhängigkeit verloren hat.

Die Mitwirkung in der EU-Schnelleingreiftruppe kann das Bundesheer schon jetzt bewältigen. Das ist bereits gängige Praxis und ein Ergebnis der Teilnahme an der Partnerschaft für Peace (PfP) im Rahmen der NATO. Die ursprüngliche Zielsetzung der PfP war die die Absicht, das Bundesheer zu befähigen, in friedenssichernden UN-Einsätzen und mit NATO-Einheiten gemeinsam operieren zu können.

Die Ausrichtung des Bundesheeres auf die größtmögliche Kooperation im Rahmen des strategischen Kompasses geht über diese Zielsetzung hinaus und entspricht nicht den Erfordernissen der wehrhaften Neutralität.

Der beste und effektivste militärische Solidarbeitrag für Frieden und Sicherheit in Europa ist eine glaubwürdige Selbstverteidigung Österreichs. Die wehrhafte Neutralität der Schweiz konnte sich schon 200 Jahre aus Kriegen heraushalten. Ein beachtlicher Erfolg für die wehrhafte Neutralität.

Die wehrhafte Neutralität hat folgende Aufgaben:

  • Sie darf in Europa keine Zone der Unsicherheit sein
  • Sie darf für andere keine militärische Bedrohung darstellen
  • Sie muß allen Kriegsparteien die Nutzung des Staatsgebietes verwehren
Diese Aufgaben können am besten von einem starken Milizheer, so wie es unsere Verfassung vorsieht, erfüllt werden.

Die hochmobilen EU-interoperablen Einheiten, sind jedoch eigentlich NATO-interoperabile Einheiten, die einen militärischen Solidarbeitrag leisten sollen, zu dem Österreich auf Grund der irischen Klausel gar nicht verpflichtet ist. Mit der beabsichtigten Änderung des Entsenderegimes sollen anscheinend die Voraussetzungen geschaffen werden, einen militärischen Solidarbeitrag zu leisten.

Zitat aus dem Kapitel Landesverteidigung: "Die Teilnahme an der European Sky-Shield Initiative (ESSI) wird konsequent fortgesetzt. Die Beschaffung von Langstrecken-Luftabwehrraketensystemen wird in den Aufbauplan aufgenommen. Dazu soll zusätzlich zum Aufbauplan 2032+ ein Vorbelastungsgesetz beschlossen werden."

Die ESSI ist Teil des NATO-Luftabwehrsystems. Es folgt der Logik des Kalten Krieges und ist der Beginn eines neuen Wettrüstens. Die Beschaffung von Langstrecken-Luftabwehrraketensystemen mit einer Bekämpfungshöhe bis zu 40 km wirft Fragen auf, die noch nicht ausreichend beantwortet sind. Wie wahrscheinlich ist die Bedrohung Österreichs durch einen Raketenkrieg? Wird Österreich durch die Stationierung von Langstreckenraketen erst zum Zielgebiet? Kann ein Langstrecken-Luftabwehrraketensystem ohne operative Vernetzung mit ESSI überhaupt sinnvoll betrieben werden? Die Teilnahme an ESSI muß aus neutralitätspolitischen Gründen noch überprüft werden.

Positiv zu bewerten ist, daß der Aufbauplan 2032+, nach Jahren der Unterfinanzierung des Bundesheeres, eine beachtliche Trendwende beim Material bewirkt. Außerdem wird mit der Beschaffung von Mittelstrecken-Luftabwehrraketensystemen die Bekämpfung von illegalen Überflügen bis zu einer Höhe von 25 Kilometern möglich und damit eine bestehende Lücke der Luftverteidigung geschlossen.

Die wichtigste Leitlinie für die österreichische Politik, die eine weitere Aushöhlung der Neutralität verhindert, ist die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen. Eine glaubwürdige Neutralitätspolitik ist mit der Gründungsidee der EU und dem EU-Vertrag vereinbar. Sie wäre international unangreifbar und würde wahrscheinlich sogar als vorbildlich wahrgenommen werden. Österreich muß diese Haltung mutig und mit diplomatischem Geschick innerhalb und außerhalb der EU vertreten:

  • Die gängige Rechtsauffassung, daß auf Grund des Artikel 23j Österreich an polizeilichen und militärischen Aktivitäten der EU, sowie an Wirtschaftssanktionen ohne UN-Mandat teilnehmen kann, ist neutralitätspolitisch nicht vertretbar. Österreich muß klar stellen, daß es sich im Rahmen der GASP an Zwangsmaßnahmen nur dann beteiligen kann, wenn diese auf einem UN-Mandat beruhen. Ist das nicht der Fall muß es sich hach Prüfung der beabsichtigten Maßnahmen der Stimme enthalten (konstruktive Enthaltung) oder gegebenenfalls dagegen stimmen.

  • Die angekündigte Überarbeitung der Sicherheitsstrategie muß die Glaubwürdigkeit der Neutralität und die Achtung der Prinzipen der Charta der Vereinten Nationen wieder in den Mittelpunkt stellen. Ein Bezug auf die regelbasierte Weltordnung, die im Vertragswerk der EU nicht vorkommt, muß entfallen. Die regelbasierte Weltordnung wird international als Ausdruck der Dominanz des Westens wahrgenommen.

  • Das Bundesheer ist als Milizarmee auf eine glaubwürdige und eigenständige Selbstverteidigung auszurichten. Je höher die Personalstärke desto glaubhafter die Selbstverteidigung. Während des kalten Krieges hatte die Miliz eine Stärke von 200.000 Personen.

  • Die Mitwirkung an der EU-Schnelleingreifkapazität ist ein solidarischer Beitrag für Kriseneinsätze, der nicht nur militärischer Natur ist. Österreich muß klarstellen, daß ein militärischer Einsatz außerhalb des EU-Gebietes nur unter einem UN-Mandat erfolgen kann. Die beabsichtigte Anpassung des Entsenderegimes muß diesbezüglich klare Bestimmungen enthalten.

  • Die Kooperation in der Partnerschaft für Peace hilft die Fähigkeiten des Bundesheeres dem internationalen Standard anzupassen. Österreich muß klarstellen, daß die Teilnahme an der Partnerschaft für Peace ausschließlich diesem Zweck dient.
Der "strategische Kompass" beendet das Ziel einer unabhängigen EU mit eigener Stimme in der Welt. Die österreichische Regierung will trotzdem ein verläßlicher Partner in der EU sein, der alle Maßnahmen der GASP solidarisch mitträgt. Das geht nicht ohne weitere Aushöhlung der Neutralität, weil die EU ihre Gründungsidee als Friedensprojekt aus den Augen verloren hat. Die Bevölkerung lehnt diesen neutralitätspolitischen Irrweg mehrheitlich ab. Deshalb betreibt die Regierung ein doppeltes Spiel. Sie bekennt sich zur Neutralität, ohne sie glaubhaft zu vertreten. Im Gegenteil, Ihre Aushöhlung geht weiter, bis sie schließlich stirbt.

Mag. Dipl-Ing. Günther Greindl ist österreichischer Generalstabsoffizier im Ruhestand. Er war Leiter der Generalstabsgruppe für Sicherheitskooperation im BMLV und erster Militärrepräsentant Österreichs bei der EU und NATO. Er hatte verschiedene Auslandsverwendungen und war kommandierender General der Blauhelme in Syrien-Israel, in Zypern und in Irak-Kuwait. 2013 wurde ihm der "Egon Ranshofen-Wertheimer-Preis" für Verdienste um das Ansehen Österreichs im Ausland verliehen.

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